Auf die Frage, was sie sich vom Sprachunterricht wünschen, antworten meiner Erfahrung nach viele Sprachlerner: „Ich möchte gerne besser sprechen können.“ In der Theorie ist von vier Fertigkeiten die Rede, nicht von einer. Es ist also bemerkenswert, dass in unseren Wunschwelten das Sprechen ein so enormes Übergewicht hat.
Wir haben es hier mit einem sehr interessanten Rätsel zu tun. Eine Erklärung könnte lauten, dass Fortschritte zu machen am schwierigsten beim Sprechen ist. Beim Lesen müssen wir uns nicht mit der Aussprache herumplagen, und wir haben zudem viel Zeit, um die Botschaft des Autors zu erfassen. Ein großes Zeitfenster steht uns auch beim Schreiben zur Verfügung (solange es nicht um eine schriftliche Prüfung geht). Beim Zuhören müssen wir schon ein bisschen konzentrierter sein, um das Gesagte in Echtzeit mitverfolgen zu können, erst recht wenn unser Gegenüber schnell spricht – aber auch hier ist der Performance-Druck vergleichsweise gering (solange wir nicht gerade simultan dolmetschen). Wenn wir aber in einer Fremdsprache sprechen, müssen wir unseren Sprechapparat auf die fremde Aussprache umstellen; wir müssen alle möglichen Wortschatz- und Grammatikregeln gleichzeitig in die Tat umsetzen; und dabei sollten wir noch relativ zügig vorgehen, um die Aufmerksamkeit unseres Gesprächspartners nicht zu verlieren.
Blog «Deutsch mit Ben»
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Falls nun tatsächlich das Sprechen unter den vier Fertigkeiten die schwierigste wäre, ja dann würde es absolut Sinn ergeben, dass ihm ein ganz besonderer Platz in unseren Zukunftsträumen rundum das Sprachelernen zukommt. Der Wunsch, mit Leichtigkeit sprechen zu können, liegt uns vielleicht so sehr am Herzen, weil er besonders schwierig in die Tat umzusetzen ist und deshalb bisher unerfüllt bleiben musste. Der Traum vom Fließendsprechenkönnen ist wie ein Traum vom Fliegen exklusiv für den Fremdsprachenlerner.
Eine andere Hypothese zu unserem Traum vom Fließendsprechenkönnen ginge in eine tiefenpsychologische Richtung. Viele von uns mögen immer schon den Wunsch gehabt haben, Filme oder Bücher in einer gegebenen Fremdsprache zu verstehen. Aber für die meisten drehen sich die tiefsten Sehnsüchte rundum das Sprachelernen nicht darum, alleine in einem Raum zu sitzen und „endlich“ in der Lage zu sein, ein Buch zu dechiffrieren. Oft wollen wir, so scheint es mir, uns in der neuen Sprache selbst ausdrücken können. Wir wollen spüren, wie die neue Sprache unsere persönliche Palette der Selbstexpression um ein neues Kolorit erweitert. Und wünschen wir uns irgendetwas sehnlicher, als gesehen und gehört zu werden, zur Geltung zu kommen?
Woher auch immer unser Fokus auf dem Sprechen herstammt – sei aus der besonderen Schwierigkeit des Sprechenlernens oder aus der Tiefenpsychologie –: Das Ziel, eines Tages fließend zu sprechen, ist selbstverständlich absolut legitim und wirkt enorm motivierend. Wichtig ist aber, das Ziel nicht mit der Methode zu verwechseln. Wenn auch unser Bedürfnis so stark ist, schon möglichst bald fließend sprechen zu können, bedeutet das nicht, dass wir fortan beim Sprachelernen nichts als sprechen und die übrigen Fertigkeiten außer Acht lassen sollten.
In der Welt der Sprachlernmethoden und -materialien – dem, was man so im Internet findet – begegne ich recht häufig der einfachen Faustformel: „Wenn Du besser sprechen willst, na dann übe, zu sprechen!“ Manchmal kommt es vor, dass ein Schüler den Unterricht mit mir aufnimmt und ein solches Credo befolgen möchte. Der Schüler hat das Ziel, fließend sprechen zu lernen – und reagiert mit Unverständnis, wenn ich auch anderweitige Aktivitäten, etwa Übungen zum Hörverstehen oder Grammatikaufgaben, empfehle.
Die Aufteilung unserer Sprachkompetenz in vier Aspekte kann manchmal dabei helfen, den Überblick zu behalten und die Lerninhalte zu planen. Aber wichtig ist, dass wir diese „Vierfaltigkeit“ nicht zu wörtlich nehmen. In Wirklichkeit befruchten sich die unterschiedlichen Teilfähigkeiten auf komplexe Weisen gegenseitig. Einige dieser fruchtbaren „Querverbindungen“ sind wohlbekannt und intuitiv. Beispielsweise sollte es klar sein, dass wenn ich mehr wie ein Muttersprachler sprechen will, ich häufig und aufmerksam zuhören sollte, wie Muttersprachler sprechen. Hörverstehen beflügelt in diesem Sinne die Sprechfertigkeit.
Andere solche günstigen Einflüsse einer Fertigkeit auf eine andere sind vielleicht ein bisschen weniger offensichtlich. Es ist ein interessantes Gedankenexperiment, sich einmal vorzustellen, dass jede der vier Fertigkeiten es vermag, die Entwicklung ausnahmslos jeder der anderen voranzutreiben, und dabei jeweils auf eine sehr spezifische Weise. Was wäre, wenn das Gutlesenkönnen eine spezifische Rolle im fortgeschrittenen Hörverstehen spielt? Und wäre es nicht möglich, dass fortgeschrittene Hörverstehenfähigkeiten eine sehr spezifische und unverzichtbare Funktion im gekonnten Schreiben ausfüllen? Beim näheren Hinsehen stellt sich heraus, dass das Motto „Wenn Du fließend sprechen willst, übe zu sprechen“ nur die halbe Wahrheit ist – oder genauer gesagt, ein Viertel der Wahrheit.
Ein Phänomen, das ich besonders gerne meinen Schülern vorstelle, sind die Wunder, die Schreibübungen für unseren mündlichen Ausdruck tun. Wenn ich etwa ein sehr kommunikativer und gesprächiger Sprachenlerner bin, der sich der Fremdsprache vor allem gern auf Reisen und im Gespräch mit Muttersprachler-Freunden bedient, dann sehe ich womöglich erst einmal keinen Sinn darin, Deutsch durch (u.a.) das Schreiben von Texten zu lernen.
Die Sache ist nun aber die, dass wir, wenn wir in ein Gespräch vertieft sind, einen gewissen Druck empfinden, den Gesprächsfluss beizubehalten. Wir können das Sozialstress nennen oder einfach Respekt und Sympathie gegenüber dem Gesprächspartner. Ich erlaube mir in einer mündlichen Konversation selber keine unendlich langen Reflexionen darüber, wie ich etwas am besten auf den Punkt bringen könnte, geschweige denn, dass ich mein Handy hervorhole und mich eines Wörterbuches bediene. In einigen Kommunikationssituationen gibt es natürlich genug Zeit für solche Verzögerungen und es ist ok für den Gesprächspartner, wenn wir nach einem Wort fragen oder unser Handy zu Rate ziehen. Aber der Punkt ist, dass wir bei Live-Gesprächen in der Regel doch eher den Reflex haben, dies nicht zu tun.
Wenn wir alleine an einem schriftlichen Text feilen, ist das selbstverständlich ganz anders. Am Schreibtisch sitzend können wir, ohne uns mit irgendeinem Sozialstress messen zu müssen, genau die Formulierung zusammenzimmern, die unseren Gedanken am genauesten wiedergibt. Wenn wir viel in der Fremdsprache schreiben, kristallisieren wir sehr schnell unseren, wie ich es nennen würde, „individuell-bevorzugten aktiven Wortschatz“ heraus. Das heißt, wir stellen in unserem Gedächtnis das Set derjenigen Wörter und Formulierungen in der Fremdsprache zusammen, die wir auch dann gerne verwenden, wenn wir in unserer Muttersprache denken, schreiben oder sprechen. Wir legen uns den Wortschatz zurecht, der am getreuesten unsere persönliche Art, über die Welt nachzudenken, wiedergibt. Das Schreiben verfeinert den individuell-bevorzugten aktiven Wortschatz in der Fremdsprache sehr viel effektiver als das passive Lesen oder das Hörverstehen oder auch die von sozialer Konvention getaktete mündliche Konversation.
Wenn es um die Entwicklung unserer Fähigkeit zu sprechen geht, so ist demnach ganz klar, dass purer Konversationsunterricht oder pures Mit-Freunden-Sprechen einem ausgewogenen Mix aus Sprechen und Schreiben unterlegen ist. Zu einem idealen Mix fehlen natürlich noch Lektüre und Übungen zum Hörverstehen. Wichtig ist aber zu betonen, das auch Lesen und Hörverstehen keineswegs das Schreibenüben in diesem Kontext ersetzen würden. Die Rolle des Schreibens im Ausbau der Sprechfähigkeiten ist einzigartig.
Wenn ich sage, dass das Schreiben am effektivsten den „persönlich-bevorzugten aktiven Wortschatz“ erweitert, dann meine ich damit, dass wir im Rahmen des Lesens und Zuhörens selbstverständlich auch Wörter nachschlagen und lernen – aber es sind oftmals nicht unsere eigenen Wörter, nicht in demselben Maße wie beim Schreiben. Viele Wörter, die ich etwa zum Leseverständnis eines geschriebenen Textes übersetze, werde ich später nie selber beim Sprechen benutzen.
Beim Schreiben stehen wir dagegen in allerengstem Kontakt mit unseren ganz persönlichen Konzepten und Denkgewohnheiten – denen, die wir auch in unserer Muttersprache gebrauchen. Alle Wörter, die wir uns beim Schreiben eines Textes aus dem Wörterbuch heraussuchen, haben per definitionem einen hohen persönlichen Stellenwert für uns. Das Nachschlagen dieser Wörter ist demnach eine äußerst wertvolle Investition unserer Lernzeit.
Wo passen in das Schema der vier Fertigkeiten Grammatik und Wortschatz rein? Wären das Fertigkeit Nr. 5 und 6? Nein, Grammatik und Wortschatz sind vielmehr eine andere Art und Weise, über unsere Sprachkompetenz nachzudenken. Wenn wir sie in das Modell der vier Fertigkeiten einpflegen wollen würden, so wären Grammatik und Wortschatz gewissermaßen Querdimensionen, die die vier Fertigkeiten durchschneiden. Unsere Grammatikkenntnisse spielen immer und überall eine Rolle – beim Lesen, Hörverstehen, Schreiben und Sprechen –, genauso wie unser Wortschatz auch immer miteinfließt.
Bezüglich der vier Fertigkeiten würde ich sagen, dass gewissermaßen die Grenzen zwischen ihnen hochgradig „durchlässig“ sind. Auch zwischen Grammatik und Wortschatz besteht kein so tiefer Unterschied, wie die häufige Gegenüberstellung der zwei Begriffe suggerieren würde. Die Übungen in einem Grammatiktrainer oder „repetytorium“ setzen sich notwendigerweise immer aus einer Vielzahl von mehr oder weniger eloquenten Wörtern zusammen. Die Bearbeitung eines solchen Grammatikbuchs schult demnach automatisch auch immer unseren Wortschatz. Umgekehrt ist es unmöglich, neuen Wortschatz zu benutzen, wenn wir nicht in der Lage sind, die Wörter korrekt in unsere Sätze einzubauen. Wörter finden ihren Platz in unserem Satz dadurch, dass wir ihre Endungen anpassen und eine geeignete Position für sie im Satzgefüge finden. Anders gesagt, die Anwendung von neuem Wortschatz schult immer auch automatisch unsere Grammatikkenntnisse.
Wenn wir uns also all diese in der Welt des Sprachenlernens so allgegenwärtigen und gewohnheitsmäßig so scharf voneinander getrennten Kategorien anschauen – Lesen, Hörverstehen, Schreiben, Sprechen, Grammatik, Wortschatz – so lauten allgemein die Zauberwörter: „Wechselbeziehung“ und „gegenseitige Befruchtung“.
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In diesem Artikel habe ich ich den Gedanken umrissen, dass das Üben einer Fertigkeit in der Sprache immer auch die übrigen Fertigkeiten fördert. Mein Beispiel war, dass das Schreiben unserem Sprechen zugutekommt. Worauf ich noch nicht weiter eingegangen bin, ist unser langfristiger Lernprozess als Zeitdimension. Aus meiner Erfahrung als Sprachenlerner und Sprachenlehrer geht hervor, dass im Laufe der Monate und Jahre, in denen wir die Sprache lernen, ab und an die Verlagerung des Fertigkeitenfokus einen plötzlichen Sprung nach vorne ermöglicht. Z.B. kann nach monatelangem Konversationsunterricht „ein bisschen Grammatik“ geradezu spektakuläre Fortschritte bewirken. Mehr dazu in meinem nächsten Blogartikel.
Beim Sprachenlernen unterscheidet man gemäß der Konvention zwischen 4 Fertigkeiten: Sprechen, Schreiben, Lesen, Hörverstehen. Sprechen und Schreiben heißen auch die „aktiven“ Fertigkeiten, Lesen und Hörverstehen die „passiven“. Hörverstehen und Sprechen erschließen uns die „gesprochene Sprache“ – Lesen und Schreiben die „geschriebene“.
Die vierfache Unterscheidung ist ein einfaches, handliches Werkzeug sowohl für den Lehrer als auch für den selbstständigen Sprachenlerner. Der Lehrer mag in diesen Kategorien denken, wenn er Lehrmaterialien vorbereitet oder Unterrichtsstunden gestaltet. Während eines Kurstreffens kann er folgende Überlegung anstellen: „Hm, was haben wir heute schon alles gemacht? Ein bisschen diskutiert haben wir schon, das Hörverstehen haben wir mit dem Audiomaterial geübt – was stellen wir mit der letzten Viertelstunde an? Ein bisschen etwas schreiben oder lesen vielleicht.“ Wenn die Zeit, die wir als Lehrer im Unterricht live gemeinsam mit dem Schüler verbringen, vor allem dem Gespräch gewidmet wird – dann bietet es sich an, als Hausaufgabe solche Materialien aufzugeben, die den Schüler zum Üben der übrigen drei Fertigkeiten mobilisieren.
Als Autodidakt kann ich mir im Laufe der Monate und Jahre zu strategischen Zeitpunkten Fragen stellen à la: „Wo, wenn es um die 4 zentralen Fertigkeiten geht, liegen meine Schwächen? Und was brauche ich wirklich? Muss ich wirklich nur fließend sprechen? Oder wäre es nicht auch hilfreich, orthografisch korrekt schreiben zu können?“
In der Welt des Fremdsprachelernens wird oft zwischen vier Fertigkeiten unterschieden: Hörverstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben. Aber auch wenn es vier Fertigkeiten gibt, so ranken sich unsere Ziele für die Sprache oft um eine von ihnen: das Sprechen. Bei der Jagd nach unserem Traum, endlich fließend sprechen zu können, vernachlässigen wir manchmal die übrigen Fertigkeiten. Wir lassen außer Acht, dass unsere Sprachkenntnisse ein organisches Ganzes bilden und die verschiedenen Fertigkeiten sich gegenseitig befruchten. Wenn wir etwa regelmäßig üben, zu schreiben, werden wir am Ende auch besser sprechen.
Benjamin Jurgasz
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